Die Art und Weise, wie wir Musik konsumieren, wurde durch technische Entwicklungen bereits mehrfach revolutioniert: vom gemeinschaftlichen, zentralen Kulturerlebnis zum individuellen, dezentralen Streaming per App.
Wir betrachten in diesem Beitrag die beiden bisher letzten großen Kapitel dieser Kulturrevolution und vergleichen die Umweltfreundlichkeit der „Compact Disc“ (CD) mit dem digitalen Transfer von Daten auf unsere Geräte (Streaming).
In vielen Foren, die sich mit der gleichen Fragestellung wie wir befassen, findet sich immer wieder ein Name: Kyle Devine. Devine ist Musikwissenschaftler an der Universität Oslo. Sein Buch „Decomposed: The political Ecology of Music“ aus dem Jahr 2019 stellt eine umfangreiche Auseinandersetzung mit den Wertschöpfungsketten der globalen Musikindustrie und deren ökologischen sowie sozialen Auswirkungen dar.
Eine Kritik der politischen Ökologie der Musik
Ja, Devine referenziert Karl Marx. Die Quelle, die so oft zur Beantwortung der eigentlich doch simplen Fragestellung herangezogen wird, ist nichts weniger als eine politische Untersuchung von Musik und Klang im Hinblick auf ihre Medieninfrastrukturen. Materielle, organisatorische und ideologische Systeme werden definiert, die in die drei Hauptphasen des sozialen Lebens und des sozialen Todes der materiellen Kultur der Musik münden:
- Ressourcen und Produktion
- Zirkulation und Übertragung
- Versagen und Abfall
Was das im Detail bedeutet und was es mit der Fragestellung zu tun hat, erfahren Sie im Interview mit Kyle Devine auf „VIBES“, veröffentlicht von der „International Association for the Studies of Popular Music“.
Doch wie beantworten wir unsere Fragestellung? Eine anschauliche Grafik aus der Studie soll es uns erlauben, die Treibhausgasemissionen und den Plastikverbrauch der „alten Medien“ dem Stromverbrauch der Rechenzentren und den damit verbundenen Treibhausgasemissionen der „neuen Medien“ gegenüberzustellen und die Fragestellung anhand der empirischen Datenlage zu beantworten. „TBC“: „Fortsetzung folgt“, schreibt Devine zur Datenlage des Streamings und lässt uns mit noch mehr Fragezeichen zurück.
Die Interpretation der Grafik aus der Studie und die Auseinandersetzung mit der politischen Ökologie der Musik gebe ich daher vertrauensvoll in Ihre Hände, liebe Leserinnen und Leser.
Was wäre, wenn …?
Zusätzlich erschweren viele unbeantwortete Systemgrenzen der Bilanzierung eine klare Antwort auf die Fragestellung. Hier eine Auswahl an Beispielen:
- Was wäre, wenn der Streaminganbieter seine Rechenzentren mit Strom aus erneuerbaren Energien betreiben oder Fernwärme aus einem nahegelegenen Industriegebiet beziehen würde?
- Was wäre, wenn wir bei der CO2-Bilanzierung der CDs den „Cradle to Cradle“-Ansatz wählen, also die gesamte Wertschöpfungskette inklusive der Logistik rund um die Distribution der Datenträger und deren Lebensende in der Plastiksortieranlage betrachten?
- Was wäre, wenn wir eine CD kaufen und das Album darauf 100 Mal abspielen, anstatt es 100 Mal zu streamen?
Sie sehen also, dass die eigentlich so klare Fragestellung sich in ihren Systemgrenzen verliert, sich stetig verzweigt. Was wir dennoch mitnehmen können, ist die Erkenntnis, dass der Preis, den wir für Musik bereit sind zu bezahlen, noch nie niedriger war.
Dieser Umstand wird wie bei allen Produkten, Waren und Dienstleistungen auch in diesem Fall direkte Auswirkungen auf die Nachhaltigkeitsleistung des „Produktes MusiK“ haben.
Was ist umweltfreundlicher: CD oder Streaming?
Es dauerte knapp 30 Jahre, diese Fragestellung überhaupt aufwerfen zu können. Doch was wäre, wenn sich unsere Beziehung zur Musik durch deren uneingeschränkte Verfügbarkeit langfristig veränderte?
Der Preis pro Einheit, ein Album auf einem Tonträger, war früher sehr kostbar. Heute stehen uns nahezu alle Alben der Musikgeschichte für knapp 9,99 EUR oder weniger pro Monat zur Verfügung. Halten wir etwas Physisches in den Händen, ist uns das Produktlebensende bewusst(er). Vielleicht deshalb machen wir uns um den Effekt des Streamings auf die Umwelt nur allzu selten Gedanken.
Die fortschreitende Entwicklung neuer Medien bringt neue Formate, ist interaktiv und dezentral. Doch ist bisher eine Entwicklung abzusehen, in der die ökologischen Kosten die ökonomischen Kosten überholen, von unserer Wertschätzung gegenüber der Kunst einmal ganz abgesehen.
PS: Für alle, die Gefallen an der Thematik gefunden haben, Kyle Devine schreibt bereits sein neues Buch „Recomposed: Music Climate Crisis Change“.